Inspirierendes Nicht-Wissen
Inspirierendes Nicht-Wissen oder auch der Anfänger-Geist können wir als radikale Offenheit dem nächsten Augenblick gegenüber verstehen. Wir wissen nicht, was kommt und können dem Leben mit der Neugier eines Kindes begegnen. Dabei können wir lernen zu staunen und eine Offenheit für Überraschungen zu entwickeln. Im Zen ist dies ein großes Thema. Dort wird das Nicht-Wissen umrahmt und gehalten von den Ritualen und Anschauungen der Tradition. Interessant wird es, wenn wir diesen Rahmen verlassen, um eine experimentierfreudigere Haltung einzunehmen. Eine Konfrontation mit unbegrenztem Nicht – Wissen kann dann leicht zu viel werden, und schnell wird es deutlich warum so viele von uns Zuflucht nehmen zu Gewissheiten aus zweiter Hand.
Menschen oder Organisationen, die behaupten zu wissen, sind in der Welt sehr verbreitet. Die spirituelle Welt ist hier keine Ausnahme.
Kaum jemand von uns kommt aus ohne Annahmen bezüglich des Lebens nach dem Tod, bezüglich Erleuchtung, Karma, Gott oder Wissenschaft. Wenn uns diese stützen und wir sie zugleich als etwas Vorläufiges oder für den Moment Hilfreiches betrachten, ist das kein Problem. Der Buddha nennt als Analogie ein Floß, das seine Funktion verliert, sobald wir am ersehnten Ufer sind. Schwierig wird es jedoch, wenn die Annahme zur Überzeugung gefriert und wir sie anderen als gefestigtes Wissen präsentieren.
Verblendete Unwissenheit
Der ursprüngliche Buddhismus hat eine andere Haltung gegenüber dem Nicht – Wissen beziehungsweise der Unwissenheit. Der Begriff dafür ist Avijja und bedeutet, dass wir – wie geblendet – unfähig sind, die Dinge so zu sehen, wie sie sind.
Dass unsere Wahrnehmung der Welt oder Wirklichkeit bedingt ist und wir letztendlich möglicherweise nicht viel wissen können von einer ultimativen Wahrheit (sofern es diese gibt), dem würden inzwischen die meisten von uns zustimmen:
Unsere Gehirne sind begrenzt und damit unser Denken, unsere Sinnesorgane ebenso wie unsere Gefühle und Phantasien. Zur organisch bedingten Begrenztheit hinzu kommt noch die psychische beziehungsweise seelische: wir wissen, dass unsere Konditionierung durch Erziehung, Erfahrung und den Kontakt mit anderen Menschen auch schwer unsere Wahrnehmung beeinflusst und möglicherweise auch sehr einengt.
Spätestens seit dem Matrix-Film ist diese Perspektive Teil der Pop-Kultur, aber im Gegensatz zu den schillernden alternativen Realitäten in Büchern oder Filmen, ist die Wahrheit des Buddhas ernüchternd:
Wenn unsere Wahrnehmung bereinigt ist, sehen wir die Dinge zum ersten Mal so wie sie sind: vergänglich, leidhaft und ohne Selbst. Wenn wir uns von dieser so durchschauten Welt radikal abwenden, erfahren wir die Abkühlung der Leidenschaft (Nibbana oder Nirwana), die gleichzeitig eine Art Seligkeit ist, für die die Worte fehlen. So einfach ist es, gemäß dem Buddha.
Fragen ohne Antworten
Ich möchte gerne zum Hinterfragen ermutigen: wollen wir glauben, dass es eine objektive Wahrheit gibt und uns auf die Suche nach einer solchen begeben?
Oder lieber unsere Begrenztheit radikal akzeptieren? Oder wollen wir lieber zu phantastischen religiösen oder esoterischen Wahrheiten, so wie andere sie uns erklären wollen, Zuflucht nehmen?
Oder vielleicht von allem etwas, ohne an einer bestimmten Perspektive festzuhalten?
Tatsächlich erscheint mir dies persönlich als die stimmigste Lösung. Wobei es keine Lösung ist, sondern eher eine Art Weg.
Ein kleines Beispiel hierfür:
Im Buddhismus geht man davon aus, dass das Selbst letztendlich eine Illusion ist, die es zu durchschauen gilt. Wenn man nun mit dieser Vorannahme nach einem Selbst sucht, wird man keines finden.
Im indischen Advaita dagegen begibt man sich auf die Suche nach dem Selbst mit der Vorannahme, dass das tatsächliche Selbst identisch mit der ultimativen Realität ist. Auf diese Weise reflektierend wird man das Selbst finden.
Mein Plädoyer ist es sich der Frage mit einer radikalen Offenheit zuzuwenden, ganz frei von Vorannahmen: „Wer oder was bin ich wirklich?“
Was nun der Nutzen davon ist, und für wen, auch das würde ich gerne ganz offen lassen.
P.S.: Um dem ganzen noch eine kurze Erklärung hinterher zu schicken: ähnlich wie bei therapeutischen finde ich es bei spirituellen Prozessen auch produktiver, Fragen in sich wirken zu lassen, als sich auf Antworten auszuruhen.